Kritik zu «Mein Enkel 2072» von Gilliéron/Koch/Wey

Eine ordentliche Identitätssuche


Von Geneva Moser 

Jetzt sitze sie zwischen Kritikerinnen, bemerkt die Frau auf dem Nebensitz, mit Blick auf meine Notizen erfreut. Ja, sage ich zögernd und sie fragt, für wen ich denn schreibe. Für mich, fürs Geld, für den Weltfrieden, keine Ahnung, wage ich nicht zu sagen und sage stattdessen das mehrfach Falsche: Es… ist ein Workshop. Desinteressiert und wissend wendet sie sich ab: Aha, und fragt kurz darauf doch nach der Workshop-Leitung. Ich nenne die Namen. Noch desinteressierter und nun nicht-wissend wendet sie sich wieder ab: Aha.

Die Premiere von «Mein Enkel 2072» von Gilliéron/Koch/Wey in der Kaserne Basel, welche den Auftakt der diesjährigen Treibstoff Theatertage Basel bildet, hat ein junges Theaterpublikum angelockt. Alle scheinen alle zu kennen und zu wissen wer oder was der_die andere ist: Identität muss sich ausweisen können – das wissen auch die drei Protagonist_innen in «Mein Enkel 2072». Die Spielenden – Oliver Goetschel, Anne Haug und Benjamin Mathis – stellen sich als Suchende vor, Spurensuchende in der persönlichen Geschichte, der jungen Existenz und der ihrer Vorfahren. Aber auch als Suchende auf der Bühne: So erklären sie zu Beginn, frontal zum Publikum, ihre Absichten, geben einen Grobüberblick über das Stück, welches sie gleich (oder schon jetzt?) spielen werden, als müssten auch sie ihre Existenz erst rechtfertigen. Als sinnbildlicher Katapult der Selbst-Erzählung dient ihnen die Vorstellung einer Rakete und das Publikum ist eingeladen, die Raketenfahrt zu begleiten. Schublade für Schublade werden Versatzstücke aus Kindheits- und Jugenderinnerung aus Aktenschränken an den Bühnenboden geschleppt und bilden dort im Quadrat angeordnet eben jene Rakete, bei deren Landung die drei Spielenden zur Belustigung des Publikums bewegungsgeschickt Schwerelosigkeit inszenieren – ausgerüstet mit orangen Schutzwesten. Ansonsten behauptet in erster Linie Sprache den Rahmen, die Geschichte, die Szene, die Bilder.

Im schlichten Text, der mit Humor, Brüchen und überraschenden Wendungen überzeugt, zeigt sich die formale Experimentierfreude der Autorin. Ariane Koch, welche ab September 2013 am Dramenprozessor teilnehmen wird, reiht Listen, Gedichte, Sprachstückelein und Fragebögen collagenartig aneinander. Im ca. 70 Minuten dauernden Stück finden sich wohltuenderweise keine Wortsalven, kein sprachspielerischer Schnörkelfetisch, keine prätentiösen Kapriolen, auch keine Wortgewalt zwar, aber viel Sprach-Spass, Wort-Freude. Dort wo die Worte und Sätze unvollständig werden, zeigen sie auch Ansätze von Brüchen, von Leerstellen in den gesuchten Biografien auf: Die ersten Begegnungen mit dem (Haustier-)Tod, die verloren genannten Kindheiten und die sterbenden Freundschaften. Nur das Ausweichen auf die englische Sprache bleibt seltsam bezugslos. Und manchmal wünscht man sich eine Geschichte, einen klaren Ablauf, mehr roten Faden als die blosse Thematik und die sich wiederholenden Sprachgebilde. Nur ist eben auch Biografie kaum eine stringente Geschichte, und der Versuch eines Zukunftsblickes noch viel weniger.

Dafür bleibt das Bühnengeschehen erstaunlich ordentlich, quadratisch angeordnete Schubladen eben. Trotz der Anachronie, trotz der Collagetechnik, erscheinen die gesammelten Biografien linear und leicht zu erzählen. So bleibt das Haustiersterben beinahe der einzige Vorstoss in die Abgründe des Lebens. Auch die Sprechweise der drei Spielenden bleibt beinahe durchgängig beim selben Sprachton: Laut, oft mechanisch, schnell, manchmal dozierend wird der Text vorgetragen. Vieles wird frontal zum Publikum gesprochen. Ich wünsche mir Stille, Wärme, Fragilität, Tiefe. Interaktion zwischen den drei Protagonist_innen gibt es erstaunlich selten, was nicht zuletzt an der Textvorlage liegen mag. Dramaturgisch fehlt Steigerung, Tempo. Bewegungen bleiben oft rätselhaft, Musik füllt beinahe ausschliesslich Bühnenumbaumomente.

War es Angst vor Pathos, der die Autorin und den Regisseur Zino Wey abgehalten haben, mehr Extreme, Überraschenderes als einen Kinderchor, zu suchen? Oder liegt die stets etwa gleichbleibende Bühnenenergie schlicht am Fokus auf die Kindheits- und Teenie-Zeit? Muss der Rückblick auf eine junge Biografie zwangsläufig der Blick auf typische Kindheitsfragen, Teenieängste sein? Auch in jungen Biografien fänden sich doch Ausbrüche, Abgründe, Unordnung, mehr Durcheinander als nur gelegentliches asynchrones Sprechen. Vielleicht bin ich sie mir vom zeitgenössischen Theater zu sehr gewohnt, die Krisengebiete im Kopf, die Absturzbiografien, die Dead-End-Geschichten, aber sie fehlt mir, die Intensität am heutigen Theaterabend. Identität ist, so hoffe ich, mehr als die gesellschaftlich richtigen Namen, die richtigen Eckdaten, die richtige Sprache. Existenzfragen bieten mehr, als alles in allem sicher zu landen, wohlbehütet, ein bisschen angeregt, aber nicht zu sehr.